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„Muss ich als Führungskraft jetzt ganz anders werden?“

„Muss ich als Führungskraft jetzt ganz anders werden?“ werde ich oft gefragt. Folgt man den vielen Beitragen dazu, könnte man meinen, wir stehen gerade vor einer nie gewesenen Revolution in Leadership und Organisation.

Dabei ist und war Führung immer schon vom Kontext abhängig. Startups in der Gründungsphase brauchen ein anderes Leadership, als in der Skalierungsphase, Restrukturierung ein anderes Führungsverhalten, als starkes Wachstum etc….. Eine Führungskraft, die in einem Kontext hervorragende Erfolge erzielt, hat schon immer in einem ganz anderen Kontext scheitern können.

Die Anforderungen an Führung waren nie statisch und einheitlich und Untersuchungen zeigen zudem, dass neben dem Einfluss von innerbetrieblichem Kontext auch vor allem große macroökonomischen Veränderungen neue Anforderungen an Führung generieren.

Im HBR wurde letztes Jahr eine interessante Studie dazu veröffentlicht unter der reisserischen Aufmachung: Passen Sie als Manager in diese Zeit?“

Dort heißt es: „Große Führungspersönlichkeiten zeichneten sich weniger durch beständige Charaktereigenschaften aus als vielmehr durch ihre Fähigkeit, die Chancen, die sich ihnen in bestimmten Momenten boten, als solche zu erkennen und zu nutzen. Sie hatten ein Gespür für den Zeitgeist – die Stimmung, die Ideen und Überzeugungen einer bestimmten Epoche – und waren in der Lage, die Gelegenheit zu ergreifen.“

Anders ausgedrückt: Eine Person, die in einer Epoche beeindruckende Erfolge feiert, könnte in einer anderen kläglich scheitern. Nach der im Harvard Business Review veröffentlichten Studie wird der Zeitgeist von sechs Faktoren bestimmt: globalen Ereignissen, staatlichen Eingriffen, Arbeitsverhältnissen, Demografie, gesellschaftlichen Normen und technologischen Entwicklungssprüngen.

Mit Pandemie, geopolitischen neuen Verwerfungen, Krieg in Europa, dem Infragestellen und dem Erleben der Grenzen der Globalisierung, den demographischen Herausforderungen, neuen signifikant veränderten finanziellen Rahmenbedingungen und den technologischen Sprüngen durch Digitalisierung und Künstliche Intelligenz ist auf allen Einflussbereichen so große Bewegung, dass der gegenwärtige Kontext wohl gewaltige Anforderung an die kontextuelle Intelligenz von Managern stellt.

Sucht man nach schlüssigen Modellen, die das gut beleuchten, wird man bei Bill Joiner und Stephen Josephs fündig. In Ihrem lesenswerten Buch Leadership Agility werden Führungsmodelle intensiv beleuchtet. Meine Kollegen der Coachinggesellschaft haben eine wunderbare Graphik dazu erstellt:

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Das eindrückliche Modell unterscheidet im wesentlichen zwischen drei Führungsmodellen: dem Experten, dem strategischen Achiever und dem visionären und facilitierungsstarken Catalyst.

Bei geringer Komplexität und Dynamik, ist der Führungstyp Experte wohl immer noch oft eine gute Wahl. Expertenführungskräfte führen mit fachüberlegenem Wissen, leiten an und schützen ihr Wissen, denn daraus leitet sich ihre Macht ab. Als ich in den 90er Jahren in der Industrie startete, war der Experte der dominierende Führungstyp. Eine meiner ersten Aufgaben bestand darin, den Übergang zum neuen Typ Führung zu begleiten, den Joiner „Achiever“ nennt. Hintergrund war die gestiegene Komplexität der Herausforderungen, auch durch die Globalisierung. Gefragt ist seither ein strategischer Führungstyp, der die Richtung vorgibt, Ziele setzt und mit Predict und Control nachhält. Er soll Mitarbeiter führen, die über mehr Expertise verfügen, als er selbst und diese dazu motivieren, die gesetzten Ziele zu erreichen. Das ist heute der dominierende Führungsstil, mit dem ca. 60 % aller Führungskräfte sozialisiert sind. Der Anteil von Experten in Führung ist seit den 90er Jahren deutlich zurückgegangen wir wird heute auf max. 30% geschätzt.

Mit der Digitalisierung und der daraus entstandenen Dynamik ist dann ein neuer Führungsstil aufgetaucht, den die meisten mit „agil“ in Verbindung bringen, der sog. „Catalyst“. Er soll in hochkomplexen und dynamischen Kontexten bessere Erfolge erzielen, als der Achiever. Dieser Führungstyp zeichnet sich durch starke Visionskraft aus und durch die Fähigkeit, unterschiedlichste Perspektiven an den Tisch zu bringen und zusammen Lösungen und Ziele zu finden, die auch ein noch so brillianter Einzelner nicht mehr generieren kann. Ein Führungsstil, der sehr viel emotionale Intelligenz und Facilitierungsfähigkeit erfordert. Dieser Typ ist zunächst in den hochdynamischen digitalen Geschäftsmodellen sehr erfolgreich gewesen und verbreitet sich auch in andere Branchen und Industrien. Er wird laut Joiner von ca. 10% der Führungskräfte heute angewendet. Dieser Führungstyp hat noch mehrere weitere Stufen, wie den Co-Creator, die immer mehr in Richtung Gemeinnützigkeitsorientierung gehen, die ich hier aber nicht beleuchten werde, da sie derzeit von marginaler Verbreitung sind.Für diejenigen, die sich vertieft damit beschäftigen wollen, ist die Lektüre des Buches sehr zu empfehlen.

Es ist bei all den Verschiebungen und Veränderungen kein Wunder,  dass derzeit viel Überforderung und Verunsicherung zu spüren ist. Auch erfahrene und erfolgsverwöhnte Führungskräfte, die ins Coaching kommen, fühlen sich verunsichert und überfordert.

Müssen jetzt also alle Führungskräfte Catalysten werden und ihr bestehendes Führungswissen und die antrainierten Muster umgehend über Board werfen, was ja gerade viele lautstark propagieren? Meine Antwort dazu ist ganz klar: nein! Umstellungen im Führungsverhalten sind Kraftakte, was jeder weiß, der die Umstellung von Expertentum auf strategische Zielsetzung in den 1990ern und 2000ern selbst miterlebt hat. Eine Revolution in der Führung würde viele ohnehin schon angespannte Systeme derart destabilisieren, dass sie zu kollabieren drohen. Man sollte nie vergessen, dass die erwähnten Führungstypen Modelle sind und nicht in Stein gemeißelte Abbildungen aller möglichen Formen. 

Dennoch plädiere ich dafür, sich als Führungspersönlichkeit zu entwickeln!

Da Führung kontextabhängig ist, ist es wichtig, dass Führungskräfte an Ihrer kontextuellen Intelligenz arbeiten. Ein konstantes Weiterentwickeln von sich als Führungspersönlichkeit ist heute bei den massiven Kontextveränderungen keine Kür mehr, sondern Pflicht!